Gehe ein Problem an, solange es noch klein ist - Tao te Ching (63)

Einleitung

Während wir reiten und ausbilden lernen begegnen uns ab und zu größere Probleme, die plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen scheinen und wir fragen uns: Was ist denn jetzt los??!! Alles lief doch gut und plötzlich macht mein Pferd Schwierigkeiten. Vielleicht hat es von einem Tag zum anderen angefangen abrupt anzuhalten und sich zu weigern vorwärts zu gehen. Vielleicht hat es plötzlich angefangen völlig grundlos umzukehren. Vielleicht hat es angefangen zu steigen oder zu bocken. In manchen Fällen sind Schmerzen der Auslöser. Aber in manchen Fällen ist die extreme Reaktion das letzte Stadium eines länger andauernden Prozesses. Die Reiterin hat kleinere Fehler in ihrem Sitz und ihrer Hilfengebung gemacht, die das Pferd nicht mochte. Anfangs fielen die Reaktionen des Pferdes noch gering aus. Vielleicht hat es nur in bestimmten Situationen die Ohren angelegt, oder es hat etwas an Schwung verloren, oder es wurde schief, oder es ging gegen die Hand. Aber als die Reiterin die feineren Warnzeichen nicht bemerkte und ihren Sitz und ihre Einwirkung nicht änderte, musste das Pferd immer deutlichere Warnsignale aussenden. Manche Reiter merken erst, dass etwas schief läuft, nachdem sie ein paar mal abgebockt wurden. Zu diesem Zeitpunkt haben sie jedoch im Laufe der vergangenen Monate bereits hunderte von kleinen Warnzeichen verpasst. Und ist das Pferd erst einmal so verärgert, dass es bockt oder steigt, ist ein ernstes Problem entstanden. 
(Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie Egon von Neindorff im Unterricht lakonisch zu sagen pflegte: “Jetzt haben wir ihn verärgert”, wenn sich ein Schüler so festgeritten hatte, dass das Pferd nicht mehr mitmachen wollte. Das war dann meist der Zeitpunkt, zu dem er eine bessere Schülerin auf das Pferd setzte, die es dann auch in wenigen Sekunden wieder in Gang brachte).

Gehe ein Problem an, solange es noch klein ist

Es gibt eine ganz konkrete praktische Anwendung dieser Tao te Ching passage in der Reiterei und der Pferdeausbildung. Jedes Problem fängt klein an, fast unmerklich. Je länger die Reiterin damit wartet, es zu korrigieren, desto größer wird es, bis es schließlich außer Kontrolle gerät. Je früher die Reiterin Veränderungen im Gang des Pferdes wahrnimmt, desto leichter und diskreter kann sie sie mit unsichtbaren Hilfen korrigieren. Je später sie mit der Korrektur anfängt, desto schwieriger wird es in jeder Hinsicht werden. Otto von Monteton (Über die Reitkunst, 1877, 29f.) spricht dasselbe Problem an: “Jeder, der Pferde zureitet, wird mir zugeben, daß es eine Hauptaufgabe des Reiters ist, durch die gespannteste Aufmerksamkeit sein Gefühl im Gesäß, im Schenkel und namentlich in der Faust so zu verfeinern, daß ihm der geringste Unterschied des Drucks durch die Sinne zum Bewußtsein kommt, und da jeder Fehler im Entstehen abgestellt werden soll, und auch nur im Entstehen abzustellen möglich ist, weil in der moralischen wie physischen Welt Lavinen nicht mehr aufzuhalten sind, so ist dies eben nur bei einem so geringen Druck ausführbar und fühlbar, daß er unseren nicht angespannten Fingermuskeln entspricht, denn die angespannte Muskel verliert in demselben Grade das Gefühl für feine Unterschiede, wie sie sich anspannt.”

Das ist eines der wichtigsten Ausbildungsprinzipien, und dennoch wird es selten genug berücksichtigt. Es gibt dazu eine sehr schöne Erläuterung bei Thomas Cleary, “Zen lessons. The Art of Leadership” (1989, 100f.):

“Das Kleine ist ein Schritt des Großen. Das Subtile ist die Wurzel des Offensichtlichen. Deshalb sind die Weisen sorgsam im Anfang und nehmen Warnungen ernst. Selbst tropfendes Wasser kann eine Maulbeerplantage in einen See verwandeln, wenn es nicht aufhört. Eine Flamme wird eine Wiese verbrennen, wenn sie nicht gelöscht wird.

“Wenn das Wasser erst einmal in Strömen fließt und das Feuer tobt, ist die Katastrophe bereits im Gange - selbst wenn man helfen will, ist es zu spät. Früher sagte man: ‘Wenn du bei kleinen Handlungen nicht sorgfältig bist, dann werden sie große Tugenden behindern.’ Das ist hier damit gemeint.”

Deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, dass die Reiterin dem Pferd bei jedem Tritt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Sie muss sich immer bewusst sein, wo die zu reitende Hufschlaglinie ist, ob die Pferdebeine sich auf dieser Linie befinden, oder ob sie davon abweichen. Sie muss die kleinste Veränderung in Takt und Tempo, Balance, Geraderichtung, Losgelassenheit und Anlehnung warhnehmen. Das erfordert einen relativ gut ausbalancierten, geschmeidigen und unabhängigen Sitz, der der Reiterin erlaubt, feine Nuancen und winzige Veränderungen in der Qualität des Ganges zu spüren.

Viele Reiter warten viel zu lange, bevor sie reagieren, entweder weil ihnen niemand erklärt hat, dass sie auf diese Details Acht geben müssen, oder weil ihr Sitz noch nicht ausbalanciert und locker genug ist, um feine Nuancen spüren zu können. Man kann beispielsweise Reiter sehen, die einen halben Zirkel lang warten, bevor sie etwas unternehmen, wenn das Pferd schneller wird. Bis dann hat das Pferd sein Gleichgewicht so gründlich verloren, dass es relativ drastischer Maßnahmen bedarf, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. Der Ritt ist dann unterbrochen und die Harmonie ist verloren, so wie bei einem Musikinstrument, das hoffnungslos verstimmt ist. Hätte die Reiterin den Balanceverlust und die Veränderung des Tempos dagegen bereits im ersten Tritt bemerkt, dann hätten die meisten Zuschauer noch nicht einmal sehen können, was passiert ist, weil die Hilfen so diskret gewesen wären.

In anderen Fällen bemerken die Reiter nicht, wenn ihr Pferd anfängt, hinter die Hilfen zu kommen. Sie übersehen alle kleineren und größeren Warnzeichen. Erst wenn sie 6 Monate später ein paar mal abgebockt werden, erkennen sie, dass etwas schief gegangen ist. Dann ist es allerdings schon fast zu spät, weil das Pferd auf dem Weg ist, gefährlich zu werden. All dies hätte verhindert werden können, wenn die Reiterin mehr auf die subtilen Veränderungen im Gang und der Einstellung des Pferdes Acht gegeben hätte. Das ist noch nicht einmal die Schuld der Reiterin, weil wir diese Dinge einfach nicht wissen können, wenn sie uns niemand erklärt hat und wenn uns niemand gesagt hat, worauf wir aufpassen sollen.

Ein großes Problem bei den verspäteten Reiter Reaktionen besteht darin, dass die Hilfen dann nicht nur viel gröber sein müssen, als wenn sie rechtzeitig gegeben worden wären, sondern dass die Reiterin ihr Pferd dann oft überkorrigiert, sodass dieses ebenso zu heftig reagiert. In diesen Fällen hinkt die Reiterin immer dem Pferd hinterher und bemüht sich aufzuholen. Ein typisches Beispiel wäre ein Pferd, das sein Gleichgewicht verliert und schneller wird. Die Reiterin bemerkt es zu spät und zieht an den Zügeln. Das Pferd stoppt abrupt ab, die Reiterin kickt mit den Schenkeln, damit es wieder vorwärts geht, da sie ja nicht wirklich anhalten wollte. Das Pferd rennt wieder los, usw. Das sieht dann so ähnlich aus, wie wenn jemand zum ersten Mal ein Auto mit Gangschaltung fährt und Schwierigkeiten mit der Bedienung von Gaspedal und Kupplung hat.

Das Problem der verspäteten Reaktionen existiert nicht nur in Bezug auf die Reiterin, sondern auch mit Bezug auf das Pferd. Ignoriert ein Pferd aus Unaufmerksamkeit die treibenden Hilfen der Reiterin und treibt die Reiterin ununterbrochen weiter, ohne die mangelnde Aufmerksamkeit anzusprechen, wird das Pferd irgendwann überreagieren und wegspringen, denn obwohl das Pferd die treibenden Hilfen ignoriert hat, wurde die Energie, die damit erzeugt werden sollte, im Pferd aufgestaut, anstatt sofort in Bewegung umgewandelt zu werden. Das Pferd ist dann wie ein Vulkan, dessen Magmakammer sich immer mehr füllt, bis der Druck so groß geworden ist, dass er schließlich explodiert.

Schlußbetrachtung

Man kann diese Zeile aus dem Tao te Ching auf zwei verschiedene Weisen anwenden.

1. Achten Sie genau auf die Qualität der Gänge des Pferdes und die subtilen Veränderungen in den Parametern des Ganges, wie Tempo, Trittlänge, Energie, Ausrichtung auf die gerittene Hufschlaglinie, Balance, Geschmeidigkeit, Anlehnung, usw., sodass Sie noch im selben Tritt die notwendigen Veränderungen vornehmen können, in dem die ungewollten Veränderungen passieren. 


Und da Pferde Gewohnheitstiere sind, machen sie in der Regel immer denselben Fehler an derselben Stelle der Reitbahn. Hat man einen bestimmten Fehler ein oder zweimal an derselben Stelle beobachtet, dann ist es wahrscheinlich, dass das Pferd denselben Fehler auch während der folgenden 100 Male wiederholen wird. Man kann dann präventiv einwirken, wenn man sich das nächste Mal dieser Stelle nähert. Man kann auch auf Warnzeichen achten. Gibt es während der letzten 3 Tritte vor dem Fehler oder dem negativen Verhalten irgendeine Veränderung im Gang oder in der Haltung des Pferdes? Wenn es gelingt, ein Warnzeichen zu identifizieren, kann man präventiv einwirken und das Muster unterbrechen. Auf diese Weise kann man Fehler vermeiden, anstatt sie korrigieren zu müssen.


In meiner eigenen Entwicklung habe ich verschiedene Phasen durchgemacht. Zuerst wurde ich von bestimmten Fehlern jedesmal komplett überrascht. Ich hatte keine Ahnung, wo die Ursache des Fehlers lag und kam mit meiner Korrektur viel zu spät. Dann lernte ich, worauf ich zu achten hatte. Der Fehler war weniger überraschend und die Verzögerung meiner Hilfen wurde immer geringer. Ich kann mich an eine Phase erinnern, in der ich die Fehler in ihrer Entstehung fühlen konnte, aber mein Körper war noch zu langsam, um im selben Tritt zu reagieren. Im Laufe der Zeit wurde ich schneller und konnte den Fehler während seiner Entstehung korrigieren. Dann überlegte ich mir, dass es während der letzten 1-3 Tritte vor dem Fehler irgendein Warnzeichen geben musste. Als ich diese Warnzeichen spüren konnte, war ich in der Lage, den Fehler zu verhindern. Und wenn es ein klares Muster gab, dass der Fehler immer an derselben Stelle oder im selben Kontext geschah, dann konnte ich vorbeugend handeln. Und das ist immer die beste Lösung. Seien Sie wachsam, geben Sie Acht auf die Details, denken Sie voraus und verhindern Sie Fehler, anstatt sie im Nachhinein korrigieren zu müssen.

2. Es gibt auch die Langzeitperspektive, dass wir die Entwicklung unseres Pferdes über die Jahre beobachten müssen, damit uns neue Trends auffallen, die sich langsam über Zeiträume von Wochen, Monaten oder Jahre hinweg vollziehen, sodass wir positive Trends im Gang, in der Haltung oder im Verhalten unseres Pferdes fördern und negative Trends stoppen oder in eine andere Richtung lenken können. Manche Dinge fangen unmerklich gering an und verstärken sich allmählich über einen längeren Zeitraum, sodass sie unter dem Radar bleiben, bis es zu spät ist, da wir winzig kleine Veränderungen von einem Tag zum anderen nicht bemerken. Wir wachen erst dann auf, wenn sich die Situation so stark verschlechtert hat, dass sie äußerst unangenehm geworden - und nur schwer zu korrigieren - ist.