Nützen Sie die kurze Seite der Reitbahn?

Einleitung

Nützen Sie die kurze Seite der Reitbahn oder warten Sie nur darauf, dass sie vorüber geht, damit Sie zum “interessanten Teil” kommen können? Als ich jung war, wusste ich den gymnastischen Wert der kurze Seite mit ihren beiden Ecken nicht zu schätzen. Erst viel später entdeckte ich, wie nützlich die kurze Seite und ihre Ecken vom Standpunkt der Pferdegymnastik wirklich sind.

Ich nehme an, dass ich nicht der einzige bin, der den Wert der kurzen Seite unterschätzt. Die meisten Dressurlektionen werden entweder an der langen Seite oder auf der Diagonalen geritten, sodass viele Reiter sich auf die langen Linien konzentrieren und dabei die kurze Seite vergessen. In Turnieraufgaben werden Seitengänge, Trab- und Galoppverstärkungen, fliegende Wechsel, usw. auf den langen Linien geritten. An der kurzen Seite kommen ein paar Übergänge und das Rückwärtsrichten vor.

Die kurze Seite hat jedoch viel mehr zu bieten, als nur eine Verbindungsstraße zwischen zwei Autobahnen zu sein.

Gymnastische Vorteile

Es ist sehr gut möglich, dass vielen Reitern nicht bewusst ist, dass die kurze Seite mit ihren beiden Ecken die Vorbereitung für den Mittel- oder starken Trab auf der darauffolgenden langen Seite oder Diagonale darstellt. Traversalen und fliegende Wechsel, aber auch Viereck Verkleinern gelingen wesentlich besser, wenn man die kurze Seite und ihre Ecken nützt, um das Pferd vorzubereiten.

Unterteilt man jede Lektion in eine Vorbereitungsphase, eine Einleitungsphase, den Hauptteil und die Abschlußphase, kann man die kurze Seite und die erste Ecke der langen Seite als Teil der Vorbereitungsphase der Lektion verwenden, die auf der langen Seite oder der Diagonalen folgt. Und man kann die zweite Ecke der langen Seite oder der Diagonalen als Abschlußphase der Lektion nützen.

Hier sind ein paar Beispiele.

Mittel- und starker Trab und Galopp:

Die Qualität der mittleren und starken Gangmaße hängt davon ab, wie stark die Gelenke der Hinterhand zuvor gebeugt waren. Gangverstärkungen sind Streckbewegungen der Hinterbeine. Je mehr man ein Hinterbein vorher beugt, desto mehr Platz hat es um sich zu strecken und zu schieben. Deswegen hört man manchmal den Satz, dass Tempoverstärkungen aus der Versammlung heraus entstehen. In der Tradition der alten Spanischen Reitschule in Wien werden die Trabverstärkungen vom inneren Hinterbein geritten, d.h. das innere Hinterbein wird veranlasst, mehr zu schieben. Wenn man zuvor die Ecken der kurzen Zirkel vergrößernartig (oder auch schultervorartig) reitet, bringt man das innere Hinterbein mehr unter den Körper, wo man es mit Hilfe des Körpergewichts von Pferd und Reiter beugen kann. Am Ausgang der Ecke kann man zwei halbe Paraden ins innere Hinterbein geben, als ob man anhalten wollte. Dies erhöht die Beugung des inneren Hinterbeins, was eine ähnliche Wirkung ausübt, als wenn man eine Sprungfeder zusammendrückt. Je mehr man ein Hinterbein beugt, desto mehr verspürt das Pferd das Bedürfnis, dieses Bein wieder zu strecken, da jede Kraft eine gleich große Kraft in entgegengesetzter Richtung auslöst (Sir Isaac Newton’s Drittes Gesetz). Unmittelbar nach den zwei halben Paraden ins innere Hinterbein wird das Pferd auf der anschließenden langen Seite oder Diagonale gerne die Tritte verlängern.

Traversale

Die Qualität der Traversale hängt vom Engagement des inneren Hinterbeins ab. Je mehr das innere Hinterbein unter die Last tritt, desto besser wird sich das Pferd biegen und desto leichter wird das äußere Hinterbein übertreten. Deshalb macht es Sinn, Traversalen durch Lektionen oder Hufschlagfiguren vorzubereiten, die der Reiterin erlauben, das innere Hinterbein mehr zu engagieren und die notwendige Biegung herzustellen.

Die einfachste Vorbereitung für die Traversale besteht darin, Zirkel vergrößernartig durch die erste Ecke der langen Seite zu reiten und anschließend zwei halbe Paraden ins äußere Hinterbein zu erteilen. Die Ecke hilft bei der Herstellung der Biegung. Die halben Paraden beugen das äußere Hinterbein, was den Einstieg in die Traversale erleichtert. Reicht die Ecke nicht aus, um die richtige Biegung herzustellen, kann man eine Volte (oder 2 oder 3…) in der Ecke reiten (manche meiner alten Lehrer sagten, dass vier aufeinanderfolgende Ecken eine Volte bilden).
Man kann die Traversale nach der Ecke auf zwei verschiedene Weisen einleiten. Man kann entweder die Pferdeschulter auf die Diagonale wenden und sobald die Hinterhand ebenfalls auf der Diagonalen angekommen ist, reitet man ein Kruppeherein. Oder man bringt das Pferd an der langen Seite für einen Moment in eine Schulterherein Stellung und leitet von dieser aus die Traversale ein.

Zirkel vergrößern in der Ecke

Zirkel vergrößern in der Ecke bietet mehrere Vorteile:

  1. Es engagiert das innere Hinterbein.

  2. Es bringt das Pferd an den äußeren Schenkel und Zügel.

  3. Es verlagert das Gewicht von der inneren Schulter in Richtung äußeres Hinterbein.

  4. Es erzeugt die Biegung, die man für ein Schulterherein, Kruppeherein oder eine Traversale braucht.

  5. Das Pferd verlässt die Ecke in der perfekten Balance für die Lektion, die man anschließend reiten will.

Anreichern der kurzen Seite

Auf Turnieren hat man nur die kurze Seite mit ihren beiden Ecken, um das Pferd auf die nachfolgende Lektion vorzubereiten.

Im Training kann man die kurze Seite jedoch mit gymnastischen Übungen füllen. Beispielsweise kann man in jeder Ecke eine Volte reiten. Diese Volten können durch einen Handwechsel auf der Mittellinie zu Achten gemacht werden.

Man kann eine Spiralvolte von einem Ende der kurzen Seite zum anderen reiten, um das innere Hinterbein mehr zu engagieren und zu beugen, wodurch sich der Nutzen der kurzen Seite und ihrer Ecken multipliziert. Es ist eine äußerst effektive Vorbereitung für eine Vielzahl von Lektionen. Am Ende der Spiralvolte ist das Pferd zu allem bereit - Zulegen, Traversale, Galopp, …

Oder man könnte ein 10m x 20m Rechteck reiten, das aus der kurzen Seite, den 10m der langen Seite von der Ecke zum Zirkelpunkt und der Parallellinie zur kurzen Seite, die die beiden Zirkelpunkte miteinander verbindet, besteht. Die Seiten dieses Rechtecks können im Schulterherein oder im Kruppeherein geritten werden. Dies ist ebenfalls eine sehr effektive Vorbereitung für alle möglichen anschließenden Lektionen.

Ecken!

Die alten Meister sagten, wenn man gute Ecken reiten kann, kann man alles reiten. Wenn man keine guten Ecken reiten kann, wird auch nichts anderes gelingen. Die Ecken sind ein Teil der kurzen Seite.
Man muss die Ecken ein wenig planen, um den maximalen gymnastischen Nutzen aus ihnen ziehen zu können. Geben Sie zwei halbe Paraden ins äußere Hinterbein während der letzten zwei Tritte vor der Ecke, um es mit dem Boden und dem Gewicht zu verbinden. Das bedeutet, dass man die halben Paraden erteilt, wenn das äußere Hinterbein auffußt. Das äußere Hinterbein besitzt eine Ankerfunktion. Wenn es gut mit dem Boden und dem Gewicht verbunden ist, kann das Pferd sich biegen und gut ausbalanciert wenden, ohne sich wie ein Fahrrad in die Kurve zu legen.
Die Ecke selbst wird in der Tradition der alten Spanischen Reitschule in Wien in 3 Tritten des inneren Hinterbeins geritten. Übertreten durch Zirkel vergrößern oder Schultervor in der Ecke bringt das innere Hinterbein weit genug unter die Last, verbindet das Pferd mit dem äußeren Schenkel und Zügel und hilft beim Herstellen der korrekten Biegung.

Eine schlampige Ecke, in der das Pferd weder ausbalanciert noch gebogen ist, bedeutet, dass das Pferd nicht bereit sein wird für die Lektion, die man anschließend auf der langen Seite oder der Diagonalen reiten will.


Anreichern der Ecke

Eine sehr gute Übung zum Mobilisieren der Hinterhand ist die Vorhandwendung in der Bewegung um eine Ecke herum. Man hält dazu ca. 5m vor einer Ecke an und lässt das Pferd in einem Viertelkreisbogen um die Ecke herum seitlich übertreten, sodass man 5m nach der Ecke ankommt und damit die Hand wechselt. Die Wirbelsäule des Pferdes ist parallel zum Radius des Kreisbogens. Das Pferd schaut in die Ecke und ist gegen die Bewegungsrichtung gebogen. Die Vorderbeine befinden sich auf einem kleineren Kreisbogen. Die Hinterbeine sind auf einem größeren Kreis. Das innere Hinterbein tritt über und äußere Hinterbein sollte die Hauptlast stützen.
Das Gegenstück zur Vorhandwendung in der Bewegung ist die sogenannte Passade. Das ist eine Arbeitspirouette, oder eine Art Hinterhandwendung in der Bewegung. Hier pariert man ca. 5m nach einer Ecke durch und lässt das Pferd in einem Viertelkreisbogen um die Ecke herum seitlich übertreten, sodass man 5m nach der Ecke an der nächsten Bahnseite ankommt und damit die Hand wechselt. Die Wirbelsäule des Pferdes verläuft parallel zum Radius des Kreisbogens, der Schweif zeigt in die Ecke und das Pferd ist in Bewegungsrichtung gebogen. Die Vorderbeine beschreiben einen größeren Kreisbogen. Die Hinterbeine bewegen sich auf einem kleineren Kreis. Das innere Hinterbein unterstützt die Hauptlast.

Sowohl die Vorhandwendung in der Bewegung als auch die Passade können sehr gut mit Volten in der Ecke oder mit Achten kombiniert werden.

Abschluß

Lassen Sie die kurze Seite nicht einfach an sich vorbeigehen. Benützen Sie sie, um die Balance Ihres Pferdes zu verbessern. Nützen Sie die Ecken, um das Engagement des inneren Hinterbeins und die Biegung herzustellen, die das Pferd für die nachfolgende Lektion oder den nachfolgenden Übergang braucht. Reicht die kurze Seite mit ihren beiden Ecken dafür nicht aus, erweitern Sie sie durch Hufschlagfiguren, die es Ihnen erlauben, dort länger zu verweilen.