Einleitung
Beim Reiten von Seitengängen folgen viele Reiter den Regeln der FEI oder der FN, die einen bestimmten Abstellungswinkel im Schulterherein, Kruppeherein oder in der Traversale verlangen. Es gibt oft hitzige Debatten darüber, ob Seitengänge auf 3 oder auf 4 Hufschlagslinien geritten werden sollten. Diese Reiter gehen vom fertigen Produkt aus, ohne den Weg zu bedenken, der dorthin führt. Und sie denken nicht an die gymnastischen Erwägungen, die dabei eine Rolle spielen.
Seitenbiegung
Alle echten Seitengänge werden mit seitlicher Biegung geritten (das Schenkelweichen wird laut FN Richtlinien für Reiten und Fahren nur mit Stellung geritten, ohne Biegung, und zählt daher nicht zu den Seitengängen im klassischen Sinne). Die Seitenbiegung erlaubt dem Pferd, mit beiden Hinterbeinen unter den Schwerpunkt zu treten, während es sich vorwärts und seitwärts bewegt. Das heißt also, die Biegung ermöglicht dem Pferd, funktional geradegerichtet zu bleiben. Wenn das Pferd sich nicht biegt, wird ein Hinterbein seitlich vom Schwerpunkt wegtreten (d.h. das Pferd wird schief). Im Schulterherein ist dies das äußere Hinterbein. Im Kruppeherein, Renvers und in der Traversale ist es das innere Hinterbein, das neben dem Körper herläuft anstatt unter die Last zu treten.
Die Seitenbiegung entspricht immer einem Kreisbogen von einem bestimmten Durchmesser. Das ist der Grund, warum die Spanische Reitschule in Wien oft vor einem Schulterherein oder einer Traversale eine Volte in der ersten Ecke der kurzen Seite geritten ist, um die notwendige Biegung herzustellen.
Stellt man sich das Pferd auf einer Zirkellinie vor, mit dem linken Beinpaar auf der linken Seite der Linie und dem rechten Beinpaar auf der rechten Seite der Linie, sodass die Wirbelsäule einen Ausschnitt des Kreises bildet, kann man erkennen, dass die Seitenbiegung in dem Maße zunehmen muss, wie der Durchmesser des Kreisbogens abnimmt.
Je kleiner der Kreisbogen, desto mehr muss sich das Pferd biegen und desto mehr muss das innere Hinterbein die Körpermasse stützen und sich in den oberen Gelenken biegen. Mit anderen Worten, es gibt sowohl eine Korrelation zwischen Biegung und Versammlung als auch zwischen Zirkelgröße und Versammlungsgrad. Eine stärkere Biegung erfordert einen höheren Versammlungsgrad und eine engere Wendung erfordert ebenfalls einen höheren Versammlungsgrad.
Biegung und Abstellung
Wie überträgt sich dies auf die Seitengänge? In jedem Seitengang befindet sich ein bestimmtes Pferdebein auf der gerittenen Linie, während das andere Ende des Pferdes seitlich von der Linie entfernt ist.
Im Schulterherein fußt das äußere Hinterbein auf dem 1. Hufschlag, während die Vorderbeine nach innen gerückt sind.
Im Kruppeherein befindet sich das äußere Vorderbein auf dem 1. Hufschlag, während die Hinterbeine auf dem inneren Hufschlag fußen.
Im Konterschulterherein befindet sich das innere Vorderbein auf dem 1. Hufschlag, während die Hinterbeine auf dem inneren Hufschlag fußen.
Im Renvers ist das innere Hinterbein auf dem 1. Hufschlag, während die Vorderbeine nach innen gerückt sind.
In der Traversale folgt das äußere Vorderbein der Diagonalen, während die Hinterhand nach innen weicht. Deshalb beschreiben manche Ausbilder die Traversale auch als ein Kruppeherein auf der Diagonalen.
Alternativ dazu könnte man sich die Traversale auch als Renvers auf der Diagonalen vorstellen. Manche klassischen Autoren bezeichnen die Traversale als “Renversale”, da das Pferd an der gegenüberliegenden Seite in einer Renvers Stellung ankommt. In diesem Falle wäre das innere Hinterbein auf der Diagonalen, während die Vorderbeine in Richtung Außenseite der Biegung von der Linie entfernt sind.
Biegung, Abstellung und Versammlung
Stellt man sich ein Pferd im Schulterherein an der langen Seite vor, kann man in Gedanken einen Kreisbogen zeichnen, welcher der Seitenbiegung des Pferdes entspricht, sodass dessen Hufe und Wirbelsäule entlang dieser Kreislinie ausgerichtet sind.
Man kann sich das Pferd entweder von oben oder direkt von vorne oder hinten vorstellen. Je nach dem Moment der Fußfolge, in dem ein Stillfoto aufgenommen wurde, kann man unter Umständen gar nicht erkennen, ob sich das Pferd im Schulterherein befindet oder ob es sich um den ersten Tritt einer Kreislinie handelt, da das äußere Hinterbein auf dem 1. Hufschlag fußt und die Schultern nach innen gewendet sind.
Ist das Pferd auf die Linie eines 20m Zirkels ausgerichtet, ist die Biegung relativ flach und die Vorderbeine befinden sich nahe am 1. Hufschlag. In dem Fall handelt es sich eher um ein Schultervor.
Ist das Pferd dagegen entlang einer 10m Volte ausgerichtet, ist die Biegung enger und die Vorhand wird weiter vom 1. Hufschlag entfernt sein. Schaut man von vorne oder hinten, kann man wahrscheinlich 3 Beine sehen.
Ist das Pferd entlang einer 6m Volte ausgerichtet, ist die Biegung noch enger und die Vorhand wird noch weiter vom 1. Hufschlag entfernt sein. Von vorne oder hinten betrachtet, kann man wahrscheinlich 4 Beine sehen.
Analog dazu entspricht das Kruppeherein dem letzten Tritt einer Volte. Das äußere Vorderbein hat bereits den 1. Hufschlag erreicht, während sich die Hinterhand noch auf der Volte befindet. Entspricht die Biegung einem 20m Zirkel, ist die Hinterhand vielleicht nut eine Hufbreite nach innen gerückt. Entspricht die Biegung einer 6m Volte, bewegt sich das Pferd auf 4 Hufschlägen.
Praktische Auswirkungen
Dies hat bedeutende praktische Auswirkungen für die Ausbildung des Pferdes. Wir haben bereits gesehen, dass es eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen dem Wendekreis und der Versammlungsgrad gibt: je kleiner der Radius der Wendung, desto höher muss der Versammlungsgrad sein, da das innere Hinterbein in der Pirouette einen größeren Lastanteil unterstützen muss als auf dem 20m Zirkel. Wir hatten auch gesehen, dass zwischen dem Radius der Wendung und der Seitenbiegung eine direkte Korrelation besteht: Je enger die Wendung, desto stärker muss sich das Pferd biegen. Das bedeutet, dass sich das Pferd mehr versammeln muss, wenn es sich mehr biegen soll. Die Versammlung (d.h. Hankenbeugung) erfordert Geschmeidigkeit und Kraft in der Hinterhand. Daher reiten wir auch keine kleinen Volten oder Galopppirouetten mit jungen Remonten. Aufgrund ihres Mangels an Kraft und Geschmeidigkeit würden ihre Sprunggelenke und Sehnen Schaden nehmen.
Und da der Grad der Abstellung in Seitengängen direkt dem Radius eines bestimmten Kreisbogens entspricht, korreliert eine steilere Abstellung mit einem kleineren Kreisbogen mit stärkerer Biegung und einem höheren Versammlungsgrad.
Homöopathische Dosierungen
Auf Turnieren ist der Grad der Abstellung festgelegt, was bedeutet, dass das Pferd einen gewissen Ausbildungsstand erreicht haben muss, um Seitengänge mit der geforderten Abstellung, Biegung und Versammlung ausführen zu können.
Man muss jedoch nicht so lange warten, um die gymnastischen Vorteile der Seitengänge nützen zu können, wenn man sie modifiziert, indem man den Winkel der Abstellung reduziert. Eine flachere Abstellung bedeutet, dass der korrespondierende Kreisbogen größer ist, das Pferd sich weniger zu biegen braucht und es sich weniger stark versammeln muss.
Hier kommen die “homöopathischen Dosierungen” ins Spiel. Wenn man keine rigide Vorstellung von dem Grad der Abstellung in den Seitengängen hat (z.B. 33 Grad oder 45 Grad), sondern sie eher als ein Kontinuum zwischen 0 Grad Abstellung und 45 Grad Abstellung ansieht, gewinnt man viel mehr Flexibilität. Das bedeutet, dass man das Grundkonzept der Seitengänge bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt in der Pferdeausbildung einführen kann, ohne dem Pferd dadurch zu schaden.
Man kann die Schultern oder die Hinterhand eine Hufbreite oder sogar nur eine halbe Hufbreite seitlich verschieben, sodass der Winkel der Abstellung vielleicht 10 Grad, oder auch nur 5 Grad beträgt und der entsprechende Zirkel einen Durchmesser von 20m oder mehr aufweist.
Bei der Einführung von Traversalen kann man die diagonale Linie flacher anlegen, z.B. von A/C zum Ende der langen Seite, sodass das Pferd sich 10m seitwärts bewegt, auf einer Länge von 40m oder 60m. Oder man beginnt an der langen Seite und reitet nur bis zur 1. Viertellinie, sodass das Pferd sich 5m seitwärts bewegt, auf einer Länge von 40m oder 60m.
Wenn man die Abstellung reduziert, reitet man kein fertiges Schulterherein, Kruppeherein oder eine fertige Traversale. Aber man bekommt alle gymnastischen Vorteile ohne negative Nebenwirkungen. Es hilft ebenfalls, wenn man diese Lektionen nur für wenige Tritte reitet und dann entweder auf eine Volte abwendet oder wieder geradeaus reitet.
Abschluss
Seitengänge in homöopathischen Dosierungen sind hervorragende geraderichtende und mobilisierende Lektionen, auch für weniger weit ausgebildete Pferde. Sie sind sanft aber sehr effektiv. In mancher Hinsicht sind Seitengänge mit flacher Abstellung schwieriger zu reiten, weil sie sofort zeigen, wo das Pferd ausweicht.
Manche Pferde gehen gerne sehr steil seitwärts. Das sind meistens Pferde mit kurzem Rücken und sehr rundem Brustkorb. Diesen fällt die Seitenbiegung nicht sehr leicht und sie kompensieren dafür, indem sie mit der Hinterhand seitlich ausweichen. Dadurch werden sie schief. Ein Hinterbein tritt seitlich von der Körpermasse weg und der Brustkorb kann gerade bleiben, ohne Biegen und ohne Rotation. Diese Pferde profitieren ganz besonders von Seitengängen in homöopathischen Dosierungen, um ihre Seitenbiegung zu verbessern und geschmeidiger in der Wirbelsäule und der Hinterhand zu werden. Kombinationen von Seitengängen sind oft besonders nützlich, da man beide Hinterbeine einzeln für ein paar Tritte unter die Last bringen kann. Fügt man noch Volten hinzu, bringt man die äußere Schulter näher ans innere Hinterbein. Dadurch wird die Hauptdiagonale verkürzt, wodurch das Pferd den Rücken besser aufwölben kann. Aufgrund der natürlichen Schiefe stoßen sich das Hinterbein der hohlen/konkaven Seite und das Vorderbein der steifen/konvexen Seite ab, wie gleichpolige Magneten. Das führt zu einem Mangel an Gleichgeweicht und Engagement der Hinterhand. Je näher diese beiden Beine einander gebracht werden können, desto geradegerichteter, ausbalancierter und runder wird das Pferd werden.