"Die Schublade" studieren und das Schubladendenken überwinden

Als ich anfing zu reiten, war ich in einer typischen Vereinsreitschule mit Schulpferden, wie so viele Kinder meiner Generation. Ich wurde gleich in eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen gesteckt, alle Pferde trugen Ausbinder oder Stoßzügel und wir ritten im Gänsemarsch in der Abteilung um die Bahn. Die Lehrer waren entweder Lehrlinge oder junge Bereiter, die selbst noch nicht besonders gut reiten konnten. Niemand erklärte uns irgend etwas. Dafür wurden wir immer angeschrien, wenn wir etwas falsch machten (was ständig der Fall war) und öffentliche Blamage war das beliebteste didaktische Hilfsmittel. Die Instruktionen waren stark vereinfacht, es gab nur EINEN RICHTIGEN WEG und alles andere war FALSCH.  

Als ich meine nächsten Lehrer traf, die wesentlich bessere Reiter waren und besser erklären konnten, gab es immer noch den Glauben an den “einen Weg”, sowie die Überzeugung, dass in der Vergangenheit alles besser war, dass seit De La Guérinière - oder zumindest seit Steinbrechts Zeit alles nur stetig bergab gegangen sei. Sie vermittelten uns ein Pflichtgefühlgegenüber den alten Traditionen und der Schule unserer Lehrer.

Das Problem bei diesem Denken ist, dass oft nur EINE Lösung für ein bestimmtes Problemerlaubt ist und wenn diese Lösung nicht funktioniert, bleibt man sehr schnell stecken. Man probiert also immer wieder diese EINE "legale" Lösung in der Hoffnung, dass irgendwann ein anderes Ergebnis herauskommt (Definition von Wahnsinn). Es ist so, wie wenn man mit dem Auto im Schlamm stecken bleibt und aufs Gaspedal drückt, weil man in der Fahrschule gelernt hat, dass das Auto dadurch vorwärts fährt. Das wird äußerst stressig für Pferd und Reiter, weil man sich so inkompetent fühlt, und da kein alternativer Lösungsansatz erlaubt ist, bleibt eigentlich nichts anderes übrig als die Hilfen zu intensivieren.

Später nahmen Shana und ich bei einem anderen Lehrer Unterricht, der eine andere Einstellung hatte und viele Tabus oder übersimplifizierte Regeln brach, die wir gelernt hatten. Seine Philosophie bestand darin, dass ein guter Ausbilder mindestens drei Lösungsansätze für jedes Problem kennen sollte. Es war eine augenöffnende Erfahrung festzustellen, dass nichts Schlimmes passiert, wenn man einige der alten Regeln bricht, mit denen wir aufgewachsen waren. Das Pferd ist nicht für immer ruiniert, wie uns früher suggeriert worden war. Im Gegenteil, die Probleme lösten sich oft schnell auf und wir konnten in Situationen Fortschritte machen, in den wir in früheren Jahren stecken geblieben wären.

Stellt man einmal fest, dass die Regeln, die man gelernt hat, nicht immer zuzutreffen scheinen und das es oft alternative Wege gibt, die zu viel besseren Ergebnissen führen, fängt man an,  alles, was man bisher gelernt hat, in Frage zu stellen und zu testen, indem man mit Alternativen experimentiert.

Dann wird einem klar, dass die alten absoluten Regeln in Wahrheit nur Faustregeln sind, die in einem gewissen Prozentsatz der Fälle funktionieren, aber nicht immer. Ich sage meinen Schülern immer, dass die Pferde unsere Bücher nicht lesen. Deswegen wissen sie auch nicht, dass sie so reagieren sollen, wie die Theorie es fordert.

Pferd und Reiter sind ein komplexes System mit sehr vielen Variablen und beweglichen Teilen. Daher ist Reiten auch nicht wie Mathematik oder Physik, wo alles sehr präzise ist und Gesetze absolute Gültigkeit besitzen. Es ist eher wie eine Geisteswissenschaft, in der die Regeln nur statistische Häufigkeiten widerspiegeln. Sie funktionieren nur in einem bestimmten Prozentsatz der Fälle. Es gibt auch Regeln, die sich überlappen oder mit einander kollidieren, wodurch die sogenannten “Ausnahmen” entstehen.

Nach einer gewissen Zeit scheint es beinahe, als gäbe es keine Regeln. Alles kann richtig sein und alles kann falsch sein, je nach der Situation. Was für das eine Pferd eine hervorragende Therapie ist, kann für ein anderes eine Katastrophe sein.

Nachdem man jahrelang die “Box” studiert hat, fängt man an, “außerhalb der Box” zu denken, und schließlich sprengt man die “Box” in die Luft, weil sie nicht mehr wirklich hilfreich ist. Das ist ein sehr befreiendes Gefühl, da es einem erlaubt, frei zu experimentieren und kreative, individuelle Lösungen für die Probleme zu finden, denen man begegnet. Man beginnt auch, in allen reiterlichen Traditionen wertvolle Informationen zu entdecken. Und man fängt an, mehr und mehr mit biomechanischen und psychologischen Prinzipien zu arbeiten statt mit oberflächlichen prozeduralen Regeln.

Die traditionellen prozeduralen Regeln haben ihren Ursprung im Militär, wo eine sehr große Zahl von Pferden und Reitern in kurzer Zeit auf ein relativ niedriges Niveau gebracht werden und alle auf dieselbe Weise “funktionieren” mussten um beliebig austauschbar zu sein. Selbständiges Denken und Handeln sind beim Militär unerwünscht und werden bestraft.

Heutzutage sind wir zum Glück in einer anderen Situation. Wir haben den Luxus, dass wir individuelle Lösungen für uns und unsere Pferde finden können. Und das ist es, was wir auch unseren Schülern beibringen wollen. Wir wollen ihnen das Handwerkszeug und das Verständnis der Zusammenhänge geben, das sie brauchen, um ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre eigenen Lösungen zu finden, die für SIE und IHRE Pferde funktionieren, anstatt blind nach irgendeiner Methode zu reiten oder den persönlichen Stil von jemand anderem zu kopieren, der vielleicht gar nicht zu ihnen und ihrem Pferd passt.


Wir wollen also die Methode an das jeweilige Pferd anpassen, nicht das Pferd an die Methode.