Strategische Überlegungen: Wirkungen, Nebenwirkungen und Verfallsdaten

Im Newsletter/Blog Post dieser Woche möchte ich ein paar Gedanken zur Ausbildung mit Ihnen teilen, die normalerweise kaum angesprochen werden, aber die ich dennoch wichtig finde. Ich hoffe, Sie bekommen ein paar Anregungen und Denkanstöße davon.

Alles, was wir mit dem Pferd machen, jede Übung, jede Lektion, jeder Übergang und jede Hilfe übt eine bestimmte Wirkung auf den Körper und Geist des Pferdes aus. Sie verändert vielleicht die Gewichtsverteilung, oder sie ordnet die Pferdebeine neu unter seinem Körper. Sie dehnt vielleicht bestimmte Muskelgruppen oder erfordert mehr Aktivität von ihnen. Sie verändert vielleicht das Körperbewusstsein und Koordinationsvermögen des Pferdes, um nur ein paar Möglichkeiten zu nennen. Es ist sehr wichtig für uns als Reiter und Ausbilder unserer Pferde, dass wir diese Auswirkungen kennen, sodass wir für jedes Pferd und jede Situation die richtige Auswahl treffen können.

Viele Übungen sind auf mehreren Ebenen gleichzeitig wirksam. Beispielsweise verbessern sie vielleicht sowohl das Körperbewusstsein des Pferdes als auch die Balance, Koordination und Geschmeidigkeit. Oder sie erklären die Beziehungen zwischen bestimmten Hilfen bzw. Körperteilen der Reiterin und den korrespondierenden Körperteilen des Pferdes, während sie geichzeitig die Geschmeidigkeit und Kraft dieser Körperteile verbessern.

Allerdings haben alle diese Dinge auch potentielle Nebenwirkungen, die nicht so wünschenswert sind wie die positiven Wirkungen, die ich gerade beschrieben habe. Es ist daher genauso wichtig, dass wir die möglichen negativen Nebenwirkungen ebenfalls kennen, damit wir sie vermeiden oder zumindest unschädlich machen können, wenn sie auftreten. Die Nebenwirkungen treten gewöhnlich dann auf, wenn wir eine Übung/Lektion/Wendung/Übergang zu oft, zu lange oder zu intensiv reiten. Dasselbe gilt für den Sitz und die Hilfen.

Beispielsweise sind Seitengänge hervorragend geeignet um die Pferdehüften zu mobilisieren, die Hinterbeine zu aktivieren und die seitliche Balance, die Biegung und die Geraderichtung zu verbessern. Reitet man sie jedoch ununterbrochen, ohne jemals dazwischen geradeaus zu gehen, dann wird man irgendwann nicht mehr in der Lage sein, eine gerade Mittellinie oder Diagonale zu reiten ohne zu schwanken und ohne seitlich auszuweichen.

Reitet man immer nur ganze Bahn und Zirkel auf einfachem Hufschlag, ohne jemals übertreten zu lassen, werden die Pferdehüften im Laufe der Zeit immer steifer, das Pferd wird immer schiefer und es wird immer mehr auf die Vorhand fallen.

Wenn man nie die Tritte verlängert und immer nur versammelte Gänge und Lektionen reitet, kann das Pferd früher oder später hinter die Hilfen kommen und sich weigern vorwärts zu gehen.

Reitet man dagegen immer nur forsch vorwärts und verlangt nie irgendeine Hankenbeugung (alias Versammlung) wird das Pferd immer steifer werden und schwerer aufs Gebiss drücken. Es wird sich schwerer lenken und anhalten lassen.

Wenn man dem Pferd nie erlaubt, sich zu dehnen, wird es vielleicht fest im Rücken und in der Oberlinie werden.

Wenn man dagegen immer nur “vorwärts-abwärts” reitet, wird das Pferd eventuell seine Kruppe hochdrücken und alle Geschmeidigkeit in seinen Hinterbeinen, seinem Hals und Genick verlieren, sodass es unmöglich wird die Zügel aufzunehmen und das Pferd durchs Genick zu reiten.

Wenn man leicht sitzt, indem man sein Gewicht mehr mit den Knien und Oberschenkeln statt den Gesäßknochen unterstützt und den Aufwärtsschwung des Pferderückens betont, erlaubt man dem Pferd seinen Rücken mehr anzuheben und mit den Hinterbeinen aktiver zu treten. Sitzt man jedoch immer so, oder wird man statisch in seinem Sitz, wird das Pferd früher oder später seine Kruppe hochdrücken und fest werden.

Setzt man sich schwerer auf die Gesäßknochen und betont die Abwärtsschwingung des Pferderückens, kann man das aufgefußte Hinterbein mehr belasten und dessen Gelenke mehr beugen. Sitzt man aber immer nur schwer und tief, wird das Pferd irgendwann seinen Rücken wegdrücken und mit der Hinterhand immer steifer und kürzer treten.

Je nach Exterieur, Gängen, Ausbildungsstand und Persönlichkeit des Pferdes muss man vielleicht manchmal eine bestimmte Arbeitsrichtung oder eine bestimmte Art von Übungen vermehrt reiten. Aber irgendwann muss man die anderen Arten von Übungen wieder reintegrieren, die man eine zeitlang in den Hintergrund gestellt hatte. Sonst entstehen Löcher in der Ausbildung und die Nebenwirkungen des einseitigen Trainings werden sich bemerkbar machen.

Immer genau die richtige Balance zu finden, ist einer der schwierigsten Aspekte der Pferdeausbildung. Normalerweise bleibt man gerne etwas zu lange bei den Übungen, die funktionieren, solange bis sie nicht mehr funktionieren. Das Training verändert das Pferd. Ist die Arbeit gut, verschwinden die ursprünglichen Probleme. Das bedeutet, dass die Situation sich verändert hat und das Pferd jetzt einen neuen Ausbildungsplan braucht, der diese Veränderung seiner Bedürfnisse reflektiert.

Je länger wir brauchen, ehe wir bemerken, dass das Pferd und seine Bedürfnisse sich verändert haben, und je länger wir mit den alten Übungen fortfahren, die so gut funktioniert hatten, desto größer werden die negativen Nebenwirkungen werden. Es ist so, als ob ein Kranker Medikamente einnimmt. Die Medizin heilt die Krankheit, aber wenn der Patient sie auch nach der Genesung weiterhin nimmt oder eine Überdosis zu sich nimmt, macht sie ihn wieder krank.

Will man vermeiden, dass man zu lange mit einer bestimmten Arbeit fortfährt, hilft es, ab und zu aus der “Vogelperspektive” herabzuschauen, um nicht die Übersicht darüber zu verlieren, wie lange sie schon andauert. Es hilft auch, wenn man die Augen nach den negativen Nebenwirkungen offen hält, sodass man sie frühzeitig erkennt, anstatt überrascht zu sein, wenn sie sich mit voller Härte manifestieren.

Ein weiterer Aspekt der Ausbildung, den ich erwähnen möchte, hat mit Übungen zu tun, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt sind, die auf einander aufbauen. Jeder Teil der Übung dient dem folgenden als Sprungbrett. Jeder Bestandteil erzeugt eine bestimmte Wirkung auf Gang und Haltung des Pferdes. Allerdings hat diese Wirkung ein Verfallsdatum. Daher ist es wichtig, dass man das nächste Segment der Übung anfängt bevor die gymnastische Wirkung des vorigen Segments verflogen ist. Sollte in einem späteren Segment ein Fehler auftreten, muss man die gesamte Übung noch einmal von vorne anfangen.


Zum Beispiel, wenn man eine Übung reitet, die aus einem Schulterherein besteht, gefolgt von einer Kurzkehrtwendung und einem Angaloppieren auf der anderen Hand, besteht die Funktion des Schulterhereins in dieser Übung darin, das innere Hinterbein mehr unter den Körper zu bringen. Der Zweck der Kurzkehrtwendung liegt darin, das Gewicht von Pferd und Reiter auf das innere Hinterbein zu übertragen. Nach Vollendung der Wendung ist dieses Hinterbein zum äußeren geworden. Das äußere Hinterbein hebt das Pferd in den Galopp. Je mehr sich das äußere Hinterbein unter dem Körper beugt, desto runder und mehr bergauf wird das Pferd galoppieren. Der Zweck dieser ganzen Übung ist es, den bestmöglichen Galopp Einsprung zu bekommen.

Passiert in der Kurzkehrtwendung ein Fehler, wie das Ausweichen der Kruppe nach außen, muss man von vorne beginnen und Schulterherein reiten, da das innere Hinterbein jetzt nicht mehr dort ist, wo es hingehört und das Gewicht für den Einsprung auf dem falschen Bein ruht. Sind das Schulterherein und die Kurzkehrtwendung zwar gut gelungen, aber es dauert zu lange, bis das Pferd angaloppiert, kann das Pferd das äußere Hinterbein wieder entlasten und seine Gelenke strecken. Also muss man von vorne anfangen, um den gesamten Kontext neu aufzubauen, in dem der Einsprung in den Galopp stattfinden soll.


Wenn Sie das nächste Mal Ihr Pferd reiten, könnten Sie diese Anregungen im Hinterkopf behalten und schauen, ob sie Ihnen helfen, detailbewusster und effizienter zu reiten und auszubilden.