Einleitung
Als Reiter und Lehrer sind unsere spezifischen Techniken, Methoden und unser Fokus das Ergebnis unserer eigenen persönlichen Entwicklung, die wiederum geprägt ist von den Schwierigkeiten, die wir überwinden mussten, unseren eigenen Schwächen, unseren Entdeckungen, unseren Lehrern, den Pferden, die wir geritten sind, den Büchern, die wir gelesen haben, den Reiterinnen und Reitern, mit denen wir Kontakt hatten und auch von den Schülerinnen und Schülern, die wir unterrichtet haben.
Gelegentlich führt uns unsere persönliche Reise zu Entdeckungen, die echte “game changers” für uns sind. Anderen erscheinen sie vielleicht insignifikant, aber für uns wird fortan nichts mehr so sei, wie es war. Wir können unseren reiterlichen Werdegang fast in die Zeit vor der Entdeckung und die Zeit nach der Entdeckung aufteilen, so sehr halfen uns diese Entdeckungen dabei, unsere Reiterei zu verbessern. Diese epochalen Entdeckungen werden für jeden etwas anderes sein. In diesem Newsletter möchte ich einige meiner Aha-Erlebnisse erzählen, die mir halfen, ein höheres Niveau des Verstehens und Könnens zu erreichen. Vielleicht sind Sie auch für Sie hilfreich und vielleicht erinnern Sie sich dabei an Ihre eigenen bedeutsamen Entdeckungen und teilen sie mit uns.
Einige wichtige Entdeckungen auf meiner eigenen Reise
Röhrensystem
Als ich eines Tages mit verschiedenen Gewichtsverteilungen und Gewichtsverlagerungen durch den Sitz und durch Bügeltritte experimentierte, hatte ich plötzlich das innere Bild von einem Röhrensystem vor Augen, das mich und das Pferd zu einer Einheit verband und durch welches das Gewicht wie Wasser hindurchfloss. Der Pferdekörper und mein eigener bildeten ein einziges Netzwerk, anstelle zweier getrennter Körper, die aufeinander gestapelt waren.
Das Wasser kann durch diese Röhren von einem Teil des Systems zum anderen fließen und von dort bis in den Boden. Ganz analog dazu kann das Gewicht von meinem Körper durch den Pferdekörper und weiter durch die Pferdebeine bis in den Boden fließen. Es kann an einer Stelle verweilen oder im Fluß bleiben. So wie in einem echten Röhrensystem das Wasser nur frei fließen kann, wenn keine Röhre verstopft ist und wenn es kein Leck im System gibt, kann das Gewicht von Pferd und Reiter auch nur dann ungehindert fließen, wenn es keine Muskelblockaden und keine falschen Knicks im Reiterkörper oder im Pferdekörper gibt.
Später wurde mir klar, dass man dasselbe Bild des Röhrensystems auf die Energie anwenden kann, die durch den Pferdekörper fließt: die Impulse der Hinterhand und die Reiterhilfen. In gewisser Weise sind auch das Gewicht und die Gewichtshilfen eine Art Energie, die durch den Reiterkörper und den Pferdekörper fließt. Alles ist mit allem verbunden.
Dieses innere Bild des Pferdekörpers und des Reiterkörpers als Netzwerk von Röhren wirkt sich auf das Reiten insgesamt aus, da man anfängt, die verschiedenen Röhren und Verbindungen zwischen den einzelnen Körperteilen von Pferd und Reiterin, sowie zwischen den Hilfen und ihren Zielpunkten im Pferdekörper zu erforschen. Man fängt an, die Hilfen als Sonden zu verwenden, um Muskelblockaden und Energielecks aufzufinden. Dadurch verändert sich die Art und Weise, wie man über das Reiten und die Aufgabe der Hilfen nachdenkt.
Oberkörper als Joystick
Im traditionellen Reitunterricht werden Gewichtshilfen meistens nur in sehr rudimentär er Form angesprochen, indem man der Schülerin sagt, sie solle den einen oder anderen Gesäßknochen mehr belasten. In Wahrheit sind die Gewichtshilfen jedoch viel komplexer und es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie man das Gewicht von einer Körperregion zur anderen verlagern kann. In diesem Zusammenhang hat es mir geholfen, mir vorzustellen, dass der Pferdekörper vier Ecken besitzt. An jeder Ecke befindet sich ein Bein, das dem Körper als Stütze dient. Im Gang befinden sich jeweils 1, 2 oder manchmal 3 Beine am Boden, die die Last stützen. Man kann die Verteilung des Gewichts auf die Stützbeine auf unterschiedliche Weisen beeinflussen.
An einem Tag hatte ich Schwierigkeiten beim Angaloppieren. Das Pferd galoppierte entweder falsch an oder in schlechter Balance. Mir wurde klar, dass ich das Gewicht mehr auf das äußere Hinterbein verlagern musste, um einen guten Einsprung auf dem richtigen Fuß zu erhalten. Nach einigen wenig erfolgreichen Versuchen, bei denen ich wahrscheinlich in der Hüfte eingeknickt war, fing ich an, mir meinen Oberkörper als Joystick inmitten der Steuerfläche vorzustellen, die durch die Pferdebeine gebildet wird. Dann versuchte ich, meinen eigenen “Widerrist” über das äußere Hinterbein zu bringen, d.h. zur hinteren-äußeren Ecke der Joystick Steuerfläche. - Und der Einsprung in den Galopp verbesserte sich daraufhin prompt.
Dieses innere Bild wird vermutlich allen helfen, die sich beim Angaloppieren mit dem Oberkörper gerne nach vorwärts-einwärts neigen oder denen die Stabilität in der Lendenwirbelsäule fehlt, um gezielt bestimmte Gewichtshilfen einsetzen zu können.
Anspannen oder Loslassen von einzelnen Muskeln Eine weitere wichtige Entdeckung kam für mich zustande, als ich glaubte, die richtige Hilfe zu geben, indem ich bestimmte Muskeln anspannte oder losließ, aber das Pferd wider Erwarten trotzdem negativ reagierte. In einem Fall versuchte ich meine Bauchmuskeln anzuspannen, weil ich gelesen oder gehört hatte, dass das helfen sollte. Zu meiner großen Überraschung wurde das Pferd dadurch nicht besser, sondern schlechter und ging über den Zügel. Als ich genauer untersuchte, was ich getan hatte, musste ich feststellen, dass ich nicht nur meine Bauchmuskeln angespannt, sondern gleichzeitig auch meinen Hintern zusammen gekniffen hatte, was dem Pferd unangenehm war, sodass es den Rücken wegdrückte. Als ich diese ungewollte Verbindung bemerkte, bemühte ich mich, meine Bauchmuskeln von den Gesäßmuskeln zu trennen und als es mir gelang, die einen anzuspannen und die anderen gleichzeitig loszulassen, reagierte das Pferd positiv und wurde besser.
Ein weiteres Aha Erlebnis ergab sich, als ich versuchte, mit den Zügeln nachzugeben, als das Pferd im Genick nachzugeben schien. Doch anstatt runder und weicher zu werden, fiel das Pferd auseinander. Ich war überrascht, weil ich dachte, dass man mit den Zügeln nachgeben sollte und das Pferd daraufhin runder werden würde. Als ich untersuchte, was ich in Wirklichkeit getan hatte, im Unterschied zu dem, was ich glaubte zu tun, konnte ich beobachten, dass ich nicht nur mit den Händen nachgab, sondern dass ich dabei auch in den Muskeln um die Lendenwirbelsäule herum weich wurde. Mit anderen Worten, ich hatte das Pferd vom Sitz abfallen lassen, anstatt eine Verbindung von den Zügeln durch mein Kreuz bis zu den Hinterbeinen aufrecht zu erhalten. Sobald ich verstand, was ich getan hatte und in der Lage war, eine ausreichende Muskelspannung in den Rumpfmuskeln beizubehalten, während ich die Muskeln im Unterarm, Handgelenk und in der Hand entspannte, reagierte das Pferd genau wie im Lehrbuch vorhergesagt, indem es runder und weicher wurde. Diese Beobachtungen zeigten mir, wie wichtig es ist, dass man einzelne Muskeln anspannen oder loslassen kann, ohne gleichzeitig andere Muskeln ebenfalls anzuspannen oder zu entspannen. Das Üben des differenzierten Einsatzes einzelner Muskeln ermöglichte es mir, eine wesentlich nuanciertere Kommunikation mit dem Pferd zu erlernen.
Alles in Frage stellen
Ich weiss nicht mehr genau, wann oder wie es anfing. Es war wahrscheinlich eine Verzweiflungstat, als die traditionellen “innerer Schenkel zum äußeren Zügel - Spiralsitz - mehr vorwärts” Anweisungen nicht funktionierten und ich bemerkte, dass ich auf ein anderes Ergebnis hoffte, obwohl ich immer wieder dieselben Hilfen wiederholte. Ich hatte also eigentlich nichts mehr zu verlieren. Es konnte nicht viel schlimmer werden, und so beschloss ich, meine Strategie zu ändern und dabei gegen einige feste Regeln zu verstoßen, die ich gelernt hatte. Irgendeine dieser Veränderungen, die ich an meinem Sitz oder an der Hilfengebung vornahm, brachte schließlich das gewünschte Resultat. Und dies öffnete die Tür zu einer ganz neuen inneren Einstellung und einer ganz neuen Entdeckungsreise - denn wenn eine feste Regel, die ich gelernt hatte, in manchen Situationen nicht zutraf, was bedeutet das für all die anderen Dinge, die ich gelernt hatte und an die ich glaubte? Das führte mich dazu, alle Regeln zu hinterfragen und Alternativen auszuprobieren. Es war eine augenöffnende Entdeckung, dass die Welt des Reitens nicht aus binären Oppositionen besteht, schwarz und weiß, richtig und falsch, gut und schlecht, sondern aus vielen Grauschattierungen. Fast jede Hilfe oder Übung kann gut oder schlecht sein, hilfreich oder kontraproduktiv, je nach Pferd, Reiterin, Situation, Wurzel des Problems, mit dem man es zu tun hat und dem Ausbildungsziel, das man gerade verfolgt.
Zusammenfassung
Das waren ein paar Entdeckungen, die meine eigene Reiterei, meinen Unterricht und meine Ausbildungsmethode geformt haben. Manche davon mögen anderen trivial erscheinen, aber für mich waren sie damals sehr wichtig. Ich bin sicher, dass Sie alle Ihre eigenen epochalen Entdeckungen gemacht haben, die Ihre Welt veränderten.
Es würde mich interessieren, welche Beobachtungen und Aha-Erlebnisse in Ihrer Erinnerung einen besonderen Platz einnehmen.