Reiten lernen in einem neuen Zeitalter

Einleitung

Die Reitkultur hat sich im Laufe der Jahrhunderte stark gewandelt und sie verändert sich auch weiterhin mit hoher Geschwindigkeit. Viele verbringen nun ihre Zeit und Energie damit, den Verlust der alten Methoden, Kultur und Ideologie zu beklagen. Ich selbst gehörte früher auch zu dieser Fraktion, die die alten Meister idealisiert und glaubt, sie waren unfehlbar. Doch mit wachsendem Alter und Erfahrung kamen auch einige mühsam erworbene Erkenntnisse dazu und heute sehe ich die historischen Epochen der Reiterei nicht mehr so sehr durch eine rosarote Brille. Es gab damals zwar durchaus viel Gutes, aber es war nicht alles gut. Es war nicht perfekt und wie alle Künste entwickelt sich auch die Reitkunst bis heute immer weiter. Sie fließt durch die Zeit und nimmt neue Werte auf, während sie andere aufgibt. Die Reitkunst ist daher eine dynamische Kunst. Sie verändert sich und kann verändert werden.

Vieles, was die alten Meister schrieben und lehrten, trifft auch heute noch zu und wir sollten ihre Erkenntnisse studieren und berücksichtigen. Es gibt jedoch auch einige Aspekte, die sich nicht länger aufrecht erhalten lassen und verändert werden müssen. Es wurden Fortschritte im Bereich der Biomechanik gemacht, die die alte Reitliteratur zum großen Teil bestätigen, zum Teil aber auch in ein neues Licht tauchen.
Auf kultureller Ebene gab es eine Abkehr vom Militarismus, wodurch sich neue Perspektiven eröffnet haben, wie Lehrer ihre Schüler behandeln und wie Schüler persönliche Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können.

In der Vergangenheit war die Reitkultur eine rein männliche Domäne. Heute reiten dagegen vorwiegend Frauen. Das ist in keinster Weise ein Nachteil! Bringt es doch einige neue Elemente mit sich, welche die Reitkultur beeinflussen. Als denkende, fühlende, sozial bewusste Menschen sollten wir uns dieser Paradigmenwechsel bewusst werden und darüber nachdenken ob die Dinge, die “schon immer so gemacht wurden”, sich wirklich noch immer vereinbaren lassen mit unseren sich ständig weiter entwickelnden Auffassungen darüber, wie wir mit unseren Pferden und mit einander kommunizieren und umgehen.

Darin spiegelt sich ein neues Zeitalter wider, in dem wir uns nicht mehr von dem zurückhalten lassen müssen, was uns nicht weiter hilft. In diesem neuen Zeitalter übernehmen Sie - die Leserinnen und Leser, die Schülerinnen und Schüler - eine aktive Rolle in Ihrer eigenen Ausbildung. Sie tragen selbst die Verantwortung für Ihr Lernen. Ihre Gefühle, Gedanken und Erfahrungen sind wichtig. Ihre Würde ist wichtig!

Lernen

Lernen ist ein kreativer Prozess, den Sie selbst steuern. Es sollte sich nicht wie eine Strafe oder Erniedrigung anfühlen. Kreativität und Neugier können nicht gedeihen in einer Umgebung, die geprägt ist von Angst, Mobbing, Scham oder Leistungsdruck. Ehren Sie auf Ihrer Reise Ihre Kreativität, Ihre Intuition und die Liebe für das Pferd.

Lernen kann überall auf Ihrer Reise stattfinden. Es kann innerhalb des traditionellen Modells der Lehrer-Schüler Beziehung geschehen. Aber es gibt daneben viele untypische Situationen undQuellen der Inspiration, die Ihren Weg beleuchten, als Inspiration dienen und Schlüsselerlebnisse liefernkönnen. Ihr Pferd ist dabei wahrscheinlich der wichtigste Lehrer.

Auf diesem Weg werden Sie wahrscheinlich viele Lehrer der unterschiedlichsten Art finden, die Ihnen helfen können. Einige davon werden Menschen sein, andere werden Pferde sein. Manche werden formellen Unterricht erteilen, andere werden auf andere Art und Weise lehren. Beschränken Sie nicht Ihre Möglichkeiten, indem Sie die Quellen Ihrer Inspiration und Ihres Wissenserwerbs zu sehr einengen. Seien Sie bereit, ausserhalb der “Box” zu denken. Folgen Sie Ihrer Neugier und beobachten Sie, wo sie hinführt. Eine spielerische Herangehensweise an Ihr Lernen erlaubt Ihnen Dinge zu sehen, die bei einer engstirnigen Methode verborgen blieben.

Das Lernen findet nicht nur in den guten Momenten statt. Die Plateaus und Rückschläge sind genauso wichtig wie die Phasen der Beschleunigung. Die Fähigkeit aus unseren Fehlern und Rückschlägen zu lernen ist nicht unbedingt angeboren. Aber Sie können sie entwickeln. Gehen Sie sanft mit sich um auf dieser Reise. Lernen Sie, die wertvollen Erkenntnisse aus den Ritten zu destillieren, die nicht so gut liefen und lernen Sie zu unterscheiden zwischen wahren Informationen und der Selbstkritik, die Ihr Selbstwertgefühl als Mensch von ihrem letzten schlechten Ritt oder dem letzten schlechten Moment abhängig macht.

Um mehr zu lernen, unterrichten Sie andere. Helfen Sie anderen. Teilen Sie Ihre Entdeckungen, Ihren Lernprozess und Ihr Verständnis mit anderen. Wenn Sie eine mitfühlende Gemeinschaft möchten, in der Sie als Reiterin wachsen können, dann schaffen Sie sie durch Ihr eigenes Handeln, durch die Art und Weise, wie Sie andere auf dieser Reise behandeln.

Ihre Erfahrungen auf dieser Reise sind ausschließlich Ihre eigenen. Wir befinden uns zwar alle auf dieser Reise und uns allen werden ähnliche Erlebnisse widerfahren, aber WIE Sie diese genau erleben und wie Sie sie verarbeiten, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Die Einsichten, die Sie daraus gewinnen, sind ausschließlich Ihre eigenen und einzigartig wertvoll. Teilen Sie sie mit anderen.

Indem wir andere unterrichten, öffnen sich neue Möglichkeiten, noch mehr dazu zu lernen. Wenn wir unser Wissen so zu so verbalisieren versuchen, dass es eine andere Person verstehen kann, entdecken wir Lücken oder Ungereimtheiten in unserem eigenen Verständnis. Zu diesen kann man zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehren und sie genauer erforschen um zu einem umfassenderen Verständnis zu gelangen. Manchmal stellt jemand eine Frage, über die wir nie nachgedacht haben. Es mag anfangs beunruhigend sein festzustellen, wie viel man noch nicht weiss. Aber lassen Sie sich nicht verunsichern. Niemand wird jemals alles wissen. Das ist sogar sehr gut so! Es ist jedesmal ein Glücksfall, wenn man etwas findet, das man noch nicht weiss. Es zeigt uns, wo wir noch tiefer in die Materie eindringen können. Wenn uns jemand eine neue Richtung zeigt, in die uns unsere Neugier lenken kann, dann tun sie uns damit einen Gefallen. Sie haben auf ihre Weise unser eigenes Studium vorangebracht.

Paradigmenwechsel

“Das Patriarchat ist tot. Was wir gerade in der Welt erleben, sind die letzten Atemzüge einer Ideologie, die die Ungleichheit institutionalisiert hat, sowie eines Systems der Dominanz, das auf hierarchischen Modalitäten, statt Holistik basierte, das Vorurteile und Hass kodifizierte, während es es Liebe und Akzeptanz verachtete, das ungleiche Gesellschaften und eine Welt der Kriege schaffte, während es Hinweise auf egalitäre Gesellschaften und eine Welt des Friedens vertuschte. Dies ist die Welt unserer Lebensspanne, die Welt, die wir bei unserer Geburt gewählt haben, die Welt, auf die wir zu diesem Zeitpunkt gekommen sind, um sie zu verändern.” - Mark Rockeymoore


Der Begriff “Paradigmenwechsel” wurde von Thomas Kuhn geprägt, dem Physiker und Autor der “Struktur der wissenschaftlichen Revolution” (1962). Er führte die Idee ein, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht nur einfach eine Entwicklung ist, sondern eine Veränderung aufgrund transformativer Handlungen von Menschen die diese Veränderung aktiv und gewollt herbeiführen. Diese Idee wurde seither auf viele andere Bereiche angewendet.

Es ist offensichtlich, dass die Dressur im Laufe ihrer Geschichte mehrere signifikante Paradigmenwechsel mitgemacht hat. Wir befinden uns gerade inmitten eines dieser Paradigmenwechsel. Es ist kein Zufall, dass dieser zeitgleich mit vielen anderen bedeutenden Veränderungen in der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber den Geschlechterrollen, der Spiritualität und der menschlichen Erfahrung, sowie der sich wandelnden Rolle des Pferdes im modernen Leben geschieht.

Gegenwärtig vollzieht sich ein unterschwelliger Paradigmenwechsel in den patriarchalischen Lehrer-Schüler Rollen. Autorität und Autonomie kehren zur Schülerin zurück und die Beziehung wandelt sich zu einer der Zusammenarbeit, in welcher beide Seiten von einander lernen und beide die Beiträge der anderen respektieren. Es ist eine Partnerschaft. Die Reiterin übernimmt dabei die Führungsrolle. Die Trainerin ist vielleicht eine Wegweiserin, aber letzten Endes hat die Reiterin das Recht, die Ratschläge der Trainerin anzunehmen oder abzulehnen und ihre eigenen Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie das Input der Trainerin einbauen will. Die Stimme, die Perspektive, die Intuition und das Input der Schülerin besitzen einen Wert und sollten ernst genommen werden.

Die Trainerin besitzt mehr technisches und akademisches Wissen und fungiert als eine Beraterin für die Schülerin auf ihrer Reise. Sie kann der Schülerin helfen zu entscheiden, wie sie vorgehen möchte. Sie kann ihr helfen bei der Lösung von auftauchenden Problemen, beim Setzen von Prioritäten in der Ausbildungsstrategie und sie kann sie bei der Auswahl von diversen Übungen und Herangehensweisen für die Ausbildung eines bestimmten Pferdes beraten. Die Lehrerin kann der Schülerin beispielsweise wertvolle Hinweise zu Entwicklung ihres Sitzes geben, sodass ihre Schwächen beseitigt werden und ihr Können und Selbstvertrauen zunehmen. Dies kann durch eine spielerische Herangehensweise erreicht werden, die gleichzeitig lehrt, zuhört und beobachtet.


Persönliche Verantwortung

Ein ausgezeichneter, kenntnisreicher Lehrer ist äußerst wertvoll. Aber nicht jede Reiterin hat täglichen Zugang zu einer solchen Lehrerin. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, nähme es ihr nicht die persönliche Verantwortung ab, ihre Reitausbildung in ihre eigenen Hände zu nehmen und ihre eigene Lehrerin zu werden.

Als Reiterin, die ihre Eigenverantwortung ernst nimmt, wissen Sie, dass Ihnen niemand diese Arbeit abnehmen kann und sie niemand leichter machen kann. Sie müssen sie sich erarbeiten. Sie müssen ihr Vertrauen in sich und in Ihre Urteilskraft pflegen. Ebenso müssen Sie Ihr inneres Commitment pflegen und sich selbst einen Ruck geben, wenn es leichter wäre, Ausreden zu finden oder sich hinter Ihren Ängsten und Unsicherheiten zu verstecken. Sie scheuen sich nicht, sich unbequeme Fragen darüber zu stellen, wie Sie Ihren eigenen Fortschritt und den Ihres Pferdes behindern. Und Sie haben keine Angst davor, Veränderungen vorzunehmen, die Ihr Reiten und die Ausbildung Ihres Pferdes nachhaltig zu verändern.

Sie, liebe Leser, bestimmen Ihren Lernprozess. Sie tragen dafür die Verantwortung und treffen alle Entscheidungen.  Geben Sie Ihre Verantwortung an niemanden ab. Holen Sie sich auf Ihrem Weg Hilfe bei Beratern, die Ihnen fachlich und menschlich zusagen. Gute Augen am Boden sind in der Reiterei äußerst wertvoll während des gesamten Lernprozesses. Gute Lehrer sind wie die besten Reiseführer - sie sind schon einmal da gewesen, sodass sie Ihnen sagen können, worauf Sie achten müssen. Aber wenn das, was sie lehren oder die Art und Weise wie sie lehren Sie hartherzig macht oder im Widerspruch zu dem steht, was sich richtig anfühlt, dann ist es Ihre Pflicht, darauf zu hören, diese Warnung ernst zu nehmen und in eine andere Richtung zu steuern. Wenn sich etwas falsch anfühlt, dann hören Sie auf Ihre Intuition. Ignorieren Sie diese nicht, weil sie eine “brave Schülerin” sein möchten. Sie haben eine Verpflichtung, Ihren Geist und Ihr Pferd zu beschützen. Sie sind verpflichtet, sich und Ihr sanftes Herz zu beschützen.

Das bedeutet nicht, dass es nicht einmal schwierig wird und dass Sie bei Schwierigkeiten nicht durchhalten sollten. Das sollten Sie absolut tun! Schwierigkeiten lassen sich nicht vermeiden, wenn man etwas Wertvolles lernt. Das Reiten bleibt davon nicht verschont. Es gibt Zeiten, in denen mansich durchbeissen muss. Aber es lohnt sich nicht immer. Manchmal sind Widerstände (in Ihnen selbst, im Pferd, im der Entwicklung) ein Zeichen dafür, dass Sie auf dem falschen Weg sind oder nicht alle Faktoren berücksichtigen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass man einen Schritt zurück machen und die Gesamtsituation betrachten sollte. Vielleicht sollten Sie andere Fragen stellen. Vielleicht sollten Sie sich wieder auf Ihre Werte, Absichten und langfristigen Ziele besinnen. Denn am Ende des Tages lohnt es sich nicht, die Zuschauer an der Bande zu beeindrucken oder diese oder jene Klasse zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erreichen, wenn dies bedeutet, dass Sie das Wohlbefinden Ihres Pferdes oder das Vertrauen in die Beziehung zu Ihrem Pferd dafür opfern müssten. Es ist leicht, von kurzfristigen Zielen abgelenkt zu werden. Es liegt an Ihnen, als diejenige, die für Ihren Lernprozess und die Beziehung mit Ihrem Pferd die Verantwortung trägt, regelmäßig zu überprüfen, was Sie tun. Stellen Sie die wichtigen (und manchmal unbequemen) Fragen um zu kontrollieren, ob das, was Sie tun, noch immer mit Ihren tiefsten Überzeugungen übereinstimmt. Bei diesem Vorgehen stellen Sie vielleicht fest, dass Sie Ihren Weg und Ihre Herangehensweise ändern müssen. Oder vielleicht entdecken Sie, dass Ihre Überzeugungen sich verändert und weiter entwickelt haben. Das kann ebenfalls geschehen. Niemand sonst wird Sie an diese Dinge erinnern. Zumindest können Sie nicht darauf warten. Geben Sie Ihre Verantwortung nicht an jemand anders ab. Es liegt an Ihnen, von Zeit zu Zeit Ihren Weg zu überprüfen und sicher zu stellen, dass auch wirklich in die beabsichtigte Richtung führt. Letzten Endes sind Sie selbst verantwortlich für Ihren Weg. Sie sind nicht für alles verantwortlich, was Ihnen auf diesem Weg begegnet, aber Sie sind dafür verantwortlich, wie Sie damit umgehen.

Wir leben in einem neuen Zeitalter, in dem der Reiter kein einfacher Soldat mehr ist. Wir können so viel mehr Faktoren berücksichtigen. Das kompliziert die Dinge vielleicht in mancher Hinsicht. Aber es bereichert auch, indem es uns tiefer in die Materie eindringen lässt. Beim Reiten geht es eben nicht nur um das Reiten.